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Israels Norden – wo die Zeit still steht.

Ausgebranntes Auto in Metulla.

Malte Ian Lauterbach berichtet aus Israels nördlicher Grenze über Israels Krieg mit der Hisbollah, über Orte, wo seit dem 07. Oktober die Zeit stillsteht und über einen Krieg, den beide Seiten nur verlieren können.

„Es war immer angespannt, hier zu leben. Man hat die Spannung meistens förmlich gespürt. Seit dem 7. Oktober hat sich alles völlig verändert.“ Glasscherben knacken unter den Füßen des Bürgermeisters, während wir durch die Ruinen eines zerstörten Wohnhauses schreiten. Er hebt einen Bilderrahmen hoch, der auf dem Fußboden liegt, das Glas zersprungen, das Bild vom Wasser unkenntlich verdreckt.

Für einige Sekunden ruht der Blick des Bürgermeisters auf dem Bilderrahmen, dann schaut er aus dem zerstörten Fenster in Richtung Libanon. Er schüttelt den Kopf, seine Augen müde vor Trauer und Schmerz, und beginnt wieder zu sprechen „Wir sind seit 76 Jahren ein demokratischer, unabhängiger Staat und wir wollen nur eines: in Sicherheit in unseren Häusern leben. Wir sind im Krieg. Einen Krieg, den die Hisbollah begonnen hat, und nicht wir.“

Blick in den Libanon.

Wir befinden uns in Metulla, einem winzigen Dorf ganz an der nördlichen Spitze Israels. Bevölkerung vor dem 07. Oktober: 2000. Bevölkerung nun: Einer.

Metulla war schon immer in einer besonderen Lage – an drei Seiten vom Libanon umgeben, kam es vor dem 07. Oktober hier immer wieder zu Momenten der Spannung, wenn Soldaten der israelischen Armee den Kämpfern der Hisbollah gegenüberstanden. Schüssen fielen eigentlich nie – meist blieb es bei Schimpfwörtern und Faustgesten. Wenn die Lage weniger angespannt war, machten die verschiedenen Akteure Selfies miteinander.

All diese Leichtigkeit ist ein Ding der Vergangenheit. Nachdem die Hamas am 07. Oktober den Süden Israels überrannt hatte, ist all diese Leichtigkeit wie weggeweht. Als sich gegen Mittag des 07. Oktobers die Ausmaße des Massakers deutlich abzeichneten, verließen die Menschen hastig den kleinen Ort. Denn, wie der Bürgermeister erklärt „Wenn es hier angefangen hätte, würden wir nicht über 1400 (Tote) sprechen. Wir sprechen von 40.000-50.000 Menschen, die hier getötet worden wären. Denn die Hisbollah ist viel mächtiger.“

Hochrangige Beamte im israelischen Verteidigungsministerium berichten uns, dass sie vermuten, dass es einen Disput zwischen Hamas und Hisbollah gab, der die Pläne der Hisbollah am 07. Oktober stoppte. Seitdem herrscht Krieg über den grünen Hügeln des Galilee. Ein Krieg, der auf beiden Seiten hohe Verluste fordert. Die Schäden in Metulla sind enorm – ein Großteil der Häuser ist beschädigt oder zerstört. Die meisten sind unbewohnbar. Immer wieder, meistens mehrfach am Tag, greift die Hisbollah das israelische Grenzgebiet an. Ihr Arsenal ist – wie Berlin Story News bereits in der Vergangenheit berichtete – moderner, fortschrittlicher und präziser als das der Hamas. Alleine hier, in der Gegend um Metullah in Nordisrael, feuerte die Hisbollah seit dem 07.10. mehr als 3500 schwere Raketen und Hunderte Drohnen ab.

Mehrmals täglich kommt es zu Raketenangriffen – um das Abwehrsystem ‘Iron Dome’ zu überfordern, werden die Raketen in Salven abgeschossen, ein Gemisch aus präzisen Lenkwaffen und kruden, häufig improvisierten Raketen aus iranischen und ehemalig-sowjetischen Beständen. Die Hisbollah verfügt heute über ein umfangreiches Waffenarsenal, zu dem rund 60.000 einsatzbereite Raketen und Flugkörper mit unterschiedlichen Reichweiten gehören sollen. Die Palette reicht von Kurzstreckenraketen bis hin zu ballistischen Mittelstreckenraketen, die tief in israelisches Gebiet vordringen können.

Der geschätzte Gesamtbestand an Raketen und Flugkörpern beläuft sich auf etwa 230.000 bis 350.000 Stück, die aus Quellen wie dem Iran, Syrien und ehemaligen sowjetischen Beständen stammen. Mehrmals täglich heult die Luftschutzsirene im Grenzgebiet. Kurz nachdem die Raketeneinschläge aufgehört haben, donnern israelische Kampfflugzeuge über die Grenze – unterstützt von israelischer Artillerie, versuchen sie, die Raketenwerfer zu zerstören, bevor sie wieder gut getarnt sind.

Aus einem Bunker im israelischen Grenzgebiet beobachten wir, wie eine israelische Drohne vom Typ Hermes ihr Ziel findet und mit kühler, mechanischer Präzision einen LKW der Hisbollah beschießt, daraufhin aber selbst von einer iranischen Boden-Luft-Rakete getroffen wird. Die schwere, langsame Drohne ist ein einfaches Ziel für den iranischen Lenkflugkörper vom Typ Sabbat-1. Sayyad – ‘Jäger’, basierend auf amerikanische ‘MIM-23 HAWK’, die der Iran vor der Revolution erhalten hatte.

Aber auch der ‘Jäger’ wird zum Gejagten – nur Tage später wird die Batterie von israelischen Luftangriffen zerstört. So verläuft der Krieg zwischen Israel und der Hisbollah – ein Krieg mit niedriger Intensität, ein abnutzender, asymmetrischer Konflikt. Beide Seiten erleiden schwere Verluste, die Israelis eher technischer Natur – Radare, Luftabwehrsysteme, Panzer. Die Hisbollah hat eine große Zahl von Männern mit unersetzlicher Erfahrung und Ausrüstung verloren, ohne dass eine der beiden Seiten profitiert hätte. Als Ersatz für die verlorenen Radare auf dem Mount Meron, dessen Armeebasis immer wieder unter Beschuss gerät, schwebt nun im Norden ein Aerostat – ein massives Luftschiff, das mit seinen Sensoren tief in die weiten Felder des Libanons blicken kann.

Blick über die Grenze. Auch dort: Zerstörung durch Monate des Krieges

Auf beiden Seiten der Grenze, wenn die Artillerie verstummt, ist es unheimlich still. Ein paar Vögel zwitschern, während der heulende Wind durch zerbrochenes Glas peitscht. Sowohl im Libanon als auch in Israel haben die meisten Menschen das Grenzgebiet am Tag nach dem 7. Oktober verlassen. Auf beiden Seiten haben die meisten Menschen das Grenzgebiet verlassen. Auf beiden Seiten sprechen die jeweiligen Regierungen von „Zurückhaltung“. Während Hassan Nasrallah, Generalsekretär der Hisbollah, vermutlich in einem Bunker unterhalb der iranischen Botschaft in Beirut versteckt ist und darüber spricht, dass die Hisbollah nicht an massiven Eskalationen interessiert ist, ist man sich auf israelischer Seite sicher, dass keine Seite eine solche Konfrontation sich leisten kann.

Außer dem Bürgermeister und einigen Hunden, die von ihren Besitzern in der hastigen Flucht getrennt wurden, ist heute niemand mehr in Metulla. Als wir Mitte März in Metulla ankommen, sind wir die ersten Journalisten, die seit dem 7. Oktober so weit im Norden Israels berichten. Der Bürgermeister führt uns weiter durch die verlassenen Straßen Metullas, hinein in ein weiteres Haus. Es ist verlassen, wie alle Häuser. Auf dem Tisch in der Küche steht der Shabbatbraten, bei der Flucht liegen gelassen. Der Tisch ist halb dekoriert, die Blumen verwelkt. Alles ab dem Wohnzimmer ist zerstört, die Druckwelle hat die Wand nach innen geschoben, Fenster zerrissen, Schränke aufgerissen.

Auch hier stockt der Bürgermeister wieder. „Wir versuchen, die Häuser zu schützen, aber wir können die Häuser nicht schützen. Das ist die Situation der letzten fünfeinhalb Monate. Es leben keine Menschen hier. Es gibt keine Landwirtschaft. Wir können unsere Äpfel nicht anbauen. Es gibt keinen Tourismus. Es gibt tatsächlich ein Gebiet von fünf Kilometern Breite, in dem keine Menschen leben.“ Die meisten Menschen flohen in den Tagen nach dem 07.10. nach Tiberias. Aus dem Norden Israels mussten mehr als 200.000 Menschen fliehen, viele von ihnen in Hotels, verteilt über das ganze Land, andere zu Freunden und Verwandten, je nachdem, wo gerade Platz war. Der Bürgermeister befürchtet, dass wenn – falls – der Krieg mit der Hisbollah endet, die wenigsten zurückkehren werden. So erzählt er: „Die Leute haben bereits einige Häuser anderswo gemietet. Und sie versuchen, ihre Kinder in anderen Schulen unterzubringen. Und wenn das noch lange so weitergeht, werden die Kinder von der Gemeinschaft getrennt werden und nicht mehr hierher zurückkehren. Ich darf niemals vergessen, wer hier meine gesamte Gemeinschaft opfert“.

Die Stimmen im Norden Israels, die das Verhalten der Regierung kritisieren, werden von Tag zu Tag lauter. Sie fordern Sicherheitsgarantien und einen Frieden. Die israelische Regierung drängt die UNO, die Resolution 1680 des UN-Sicherheitsrates durchzusetzen, die die Entwaffnung libanesischer Milizen wie der Hisbollah und die Entmilitarisierung des Gebiets nahe dem nördlichen Israel fordert. Dieser Landstreifen – knapp unter 25 Kilometer von der Demarkationslinie bis zum Litani-Fluss – war bereits in der Vergangenheit ein Konfliktherd zwischen Israel und dem Libanon. (Berlin Story News berichtete hier). Der Libanonkrieg 2006 führte zu schweren Verlusten für die israelische Armee, größtenteils aufgrund unerwarteter Taktiken und Waffen der Hisbollah. Seitdem haben beide Seiten ihre militärischen Fähigkeiten erheblich verbessert. Derzeit verfügt die Hisbollah über eine Feuerkraft, die der einer mittelgroßen Armee entspricht und das kombinierte Raketen- und Artilleriearsenal aller europäischen Nationen übertrifft.

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