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Warum die Ukraine den Krieg gewinnt

Vor unseren Augen spielt sich etwas völlig Neues ab. Technologiekonzerne spielen eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der Strategie gegen den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. So rückständig die russische Militärtechnik ist (wir haben westliche Chips in allen Raketen und Drohnen gefunden), so veraltet ist die Strategie.

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Links Mychajlo Fedorow (damals 31), Alex Karp (damals 54), Wolodymyr Selenskyj (damals 44). Foto freigegeben von Präsidentenbüro.
Links Mychajlo Fedorow (damals 31), Alex Karp (damals 54), Wolodymyr Selenskyj (damals 44). Foto freigegeben von Präsidentenbüro.

Einerseits habe ich mich gefragt, wie die Ukrainer diese Schwachstelle in Russland Richtung Kursk gefunden haben, andererseits habe ich gerade eine Autobiografie von Peter Thiel gelesen, einem der Gründer von PayPal und Palantir. Erst durch die ersten Telegram-Videos von der ukrainischen Kampagne in Russland, meine Neugier und diese Autobiografie bin ich der Frage näher gekommen: Wie konnte es geschehen, dass der ukrainische Feldzug in Russland so erfolgreich ist?

Das vorweg: Es gibt auch die Vermutung, dass diese ukrainische Kampagne ein gigantisches Ablenkungsmanöver ist und noch etwas ganz anderes folgen wird. Aber zum Thema: Wie hat man früher Feindesland erkundet? Generäle konnten einen Spähtrupp losschicken; wenn es gut lief, hatte man den einen oder anderen Spion; dann kam die Luftaufklärung mit Ballons dazu, schließlich im Ersten Weltkrieg mit Flugzeugen. Cyril Brown von der New York Times berichtet von solchen Flügen mit Deutschen, an denen er teilgenommen hat.

Bei der ukrainischen Kampagne in Russland hat bisher (Stand Montag, 19. August 2024) alles geklappt. Erst nach einer Woche kamen die ersten Videos, wie der Grenzposten zerschossen wurde und die russischen Soldaten sich ergaben. Zwei Tage später kommt genau von dieser Stelle der erste Bericht von CNN. Am selben Tag berichtet Stefania Battistini (w) und Simone Traini (m) für die RAI aus dem ukrainisch besetzten Gebiet – also zehn Tage nach dem Beginn des Feldzugs. Das Gebiet, das jetzt besetzt ist, ist größer als das riesige Berlin. Trotzdem, dachte ich, könnte man die Soldaten in einer Nacht zurückziehen. Es fehlte mir immer noch die Vorstellungskraft, dass die Ukrainer so gut und die Russen so schlecht sind.

Wir sehen kühne, euphorische Krieger der Ukrainer, der Georgischen Legion und viele andere Freiwillige. Auf der anderen Seite die eher bemitleidenswerten, gefangenen russischen (Kinder-) Soldaten. Die einen kämpfen für die Freiheit, die anderen nicht für Putin, sondern weil sie Wehrpflichtige sind oder weil es Geld gibt.

Und wir lesen Spekulationen, die seltsame Blüten treiben. Das britische Nachrichtenmagazin Economist stellt am 18. August 2024 den Angriff als eine Art Verzweiflungstat von General Oleksandr Syrsky dar. Er solle vor der Entlassung gestanden haben. „Gerüchte kursierten, dass General Syrsky kurz vor der Entlassung stehe, und Kampfhunde aus dem Umfeld von Andriy Yermak, dem allmächtigen Stabschef von Präsident Wolodymyr Selenskyj, deuteten sogar an, er habe seine Vorgesetzten ,belogen’. Inmitten des Tumults begann der Kommandant mit seinen Planungen.“ Mit Selenskyj habe er nur unter vier Augen gesprochen, ohne dessen Stab. Die Verbündeten seien nicht informiert gewesen. Ich halte das im Kern für eine Phantasiegeschichte. Wer auch immer seitens der Ukraine an der Aufklärungsarbeit beteiligt war, an den Amerikanern und ihren technischen Aufklärungsmöglichkeiten geht kein Weg vorbei. Die würde keiner an der Nase herumführen. Aber natürlich wird alles von Ukrainern selbst geplant und vorbereitet worden sein.

Die Frage ist doch: Wie macht man das heute, Feindesland auskundschaften? Mit Drohnen, mit Satelliten, mit den Daten über die Nachschubwege, über die Produktionskapazitäten der Russen, über die Zahl der zu rekrutierenden Soldaten. Das sind Echtzeitdaten und Langzeitdaten – riesige Datenmengen, die zur Verfügung stehen und ausgewertet werden müssen. Zielgerichtet, nämlich mit dem Ziel, Schwachstellen zu erkennen. Dazu braucht man erst mal keine AI, sondern die Fähigkeit und Möglichkeit, extrem schnell wahnsinnig große Datenmengen zu durchforsten und die Ergebnisse auf den Punkt zu bringen.

Mit einer ähnlichen Situation sahen sich die Gründer von PayPal konfrontiert. Sie hatten ein System zum blitzschnellen Geldtransfer vor allem für Ebay entwickelt, wurden aber von kriminellen Kreditkartenbetrügern monatlich um 10 Millionen Dollar bestohlen. Sie entwickelten, wie PayPal-Mitbegründer Peter Thiel in seinem Buch Zero to One berichtet, eine Software, um die Betrüger aufzuspüren. Diese war auch erfolgreich – allerdings nur für ein bis zwei Stunden. Im nächsten Schritt wurden verdächtige Überweisungen automatisch gestoppt, dann aber von Menschen kontrolliert. 2002 verkauften sie PayPal, 2003 gründete Peter Thiel mit Alex Karp Palantir.

Alex Karp verstand die Situation des russischen Überfalls am 24. Februar 2022 sofort. Er kam bereits am 1. Juni 2022 in die Ukraine, nach dem die Russen am 2. April 2022 die Schlacht um Kyiv verloren hatten. Bei seinem Treffen mit Präsident Wolodymyr Selenskyj machte er Mut mit der hoffnungsvollen Perspektive, dass Palantir und die Ukraine sich zusammentun könnten, damit David den modernen Goliath besiegen kann.

Links Mychajlo Fedorow (damals 31), Alex Karp (damals 54), Wolodymyr Selenskyj (damals 44). Foto freigegeben von Präsidentenbüro.
Links Mychajlo Fedorow (damals 31), Alex Karp (damals 54), Wolodymyr Selenskyj (damals 44). Foto freigegeben von Präsidentenbüro.

Mychajlo Fedorow (damals 31), Minister für Digitales und stellvertretender Premierminister der Ukraine, erkannte die Chance. Heute nutzen zahlreiche ukrainische Behörden Palantir: das Verteidigungs-, das Wirtschafts- und das Bildungsministerium. Für das Militär geht es darum, Satellitenbilder, Drohnenaufnahmen, Open-Source-Quellen und Frontberichte zu analysieren. Daraus ergeben sich Optionen für die Strategie im Allgemeinen, aber auch konkret für die taktischen Überlegungen der Kommandeure einzelner Einheiten. Karp glaubt, dass seine Software für die meisten gezielten Angriffe der Ukrainer verantwortlich ist. Die Technologie von Palantir ist zu einem wichtigen Baustein geworden, um entscheidende Analysen für militärische Strategien zu planen. Finanztrends.de schreibt am 12. August 2024, „die Ukraine könnte sich für den Datenspezialisten auch als Experimentierfeld eignen, um ,Kriegs-Technologie’ zu entwickeln, basierend zudem auf KI, um Schlachtpläne zu entwickeln.“ Dieser Kommentar erschien wenige Tage nach dem ukrainischen Feldzug nach Russland, der am 6. August 2024 begann. Die Palantir-Aktie ist seitdem weiter auf Rekordjagd.

Man darf aber nicht vergessen, dass in der Ukraine bereits in den allerersten Tagen des russischen Angriffs im Februar 2022 eine App entwickelt und verbreitet wurde, die es jedermann ermöglichte, die Position der Russen und ihre Bewaffnung zu melden. Ein Novum in der Kriegsgeschichte, eine rein ukrainische Entwicklung. Dadurch konnte jede Bewegung der Russen vom ukrainischen Militär in Echtzeit verfolgt werden. Erinnern wir uns im Vergleich dazu daran, wie lange es in Deutschland gedauert hat, die Corona-App zu entwickeln, die im Juni 2020 auf den Markt kam und die laut Deutschem Bundestag 214 Millionen Euro (kein Tippfehler) gekostet hat. Jetzt ist sie im Schlafmodus, kann aber laut Bundesregierung in weniger als drei Monaten reaktiviert werden. Hätten die Ukrainer damals so lange gebraucht, gäbe es das Land wahrscheinlich nicht mehr.

In der Vorbereitung verarbeitete die Software von Palantir Rohinformationen aus Quellen wie Drohnen, Satelliten und ukrainischen Bodentruppen sowie Radar, das durch Wolken sehen kann, und Wärmebilder, die Truppenbewegungen und Artilleriefeuer erkennen können. KI-gestützte Modelle zeigten dann in schwindelerregender Geschwindigkeit die effektivsten Optionen für Angriffe und feindliche Stellungen. Laut Palantir sind die Modelle lernfähig und werden mit jedem Angriff besser.

Der Aufbau des Technologiesektors in der Ukraine kann nicht nur helfen, den Krieg zu gewinnen, sondern wird auch nach dem Krieg eine tragende Säule der ukrainischen Wirtschaft sein. Israel dient als Vorbild.

Auch bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen leistet die Software von Palantir wichtige Unterstützung. Die Software des Unternehmens soll unter anderem die Integration von Open-Source-Aufklärungsdaten und Satellitenbildern ermöglichen, also zum Beispiel Zeugenaussagen von Opfern mit Fotos und Videos aus sozialen Medien zusammenführen. Auch hier gilt es, riesige Datenmengen zu bewältigen, Quellen zu verifizieren und mögliche Querverbindungen zu erkennen. „Die Analyse von so viel Beweismaterial wäre ohne moderne IT-Lösungen praktisch unmöglich“, zitiert Palantir den ukrainischen Generalstaatsanwalt Andriy Kostin. Basis ist die Gesichtserkennungssoftware von Clearview AI. Das Unternehmen hat seine Tools mehr als 1.500 ukrainischen Beamten zur Verfügung gestellt, die damit mehr als 230.000 Russen, auch gefallene und gefangene russische Kämpfer, auf ihrem Territorium sowie ukrainische Kollaborateure identifiziert haben.

Auch andere Unternehmen halfen, fast immer kostenlos. Mit der KI-Software „Primer“ gelang es, unverschlüsselte Telefongespräche russischer Kämpfer abzuhören und auszuwerten. Im April 2022 versetzten Satellitenbilder der Firma „Maxar“ Beobachter in Aufruhr, weil sie mutmaßlich Massengräber am Stadtrand von Mariupol zeigen – und damit Rückschlüsse auf die Zustände in der damals noch belagerten Stadt zuließen.

Amerikanische Unternehmen wie Microsoft, Amazon, Google und Starlink haben daran gearbeitet, die Ukraine vor russischen Cyberangriffen zu schützen, wichtige Regierungsdaten in die Cloud zu migrieren und die Konnektivität des Landes aufrechtzuerhalten, indem sie Hunderte von Millionen Dollar für die Verteidigung des Landes bereitgestellt haben. Entgegen vieler Gerüchte hat Elon Musk Starlink immer für die Ukraine bereitgehalten und nach den ersten beiden Containern (wie sind die eigentlich so schnell ins Land gekommen?) kontinuierlich Material geliefert. Amerikanische Firmen haben in Windeseile die Daten der ukrainischen Regierung und Verwaltung in Clouds geladen, um sie zu sichern. Vera Bergengrün hat dazu im Februar 2024 ausführlich im Time-Magazin geschrieben. Sie berichtet auch über einen ukrainischen Militär-Startup-Accelerator namens D3 (Dare to Defend Democracy). Namhafte ausländische Investoren, darunter der ehemalige Google-CEO Eric Schmidt, haben mehr als 10 Millionen Dollar in D3 gepumpt. Auf Reisen in die Ukraine, sagt Schmidt, sei er davon überzeugt worden, dass an den Fronten des Landes Durchbrüche beim Einsatz von KI und Drohnen erzielt werden würden. „Es gibt einfach so viel Volumen, so viele Akteure, so viel Innovation“, sagt Schmidt. „Es ist wirklich beeindruckend.“

Bei der Sicherung dieser Daten war Amazon Web Services ein wichtiger Verbündeter für die Ukraine. In kofferartigen Speichereinheiten von Amazon, den sogenannten Snowball Edge, wurden die Daten gesichert und außer Landes gebracht. Über 10 Millionen Gigabyte (= 10 Petabyte). Amazon hat dem Land seit Beginn des Angriffskrieges auf vielfältige Weise geholfen, mit Hilfsgütern, Lebensmitteln und Spielzeug. Darüber hinaus habe das Unternehmen 75 Millionen US-Dollar in die Entwicklung von Cloud-basierten Backups investiert, die wichtige Regierungsdaten enthielten, teilte das Unternehmen mit.

Eine Woche vor dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine hatte das ukrainische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das es erlaubt, wertvolle Daten der Regierung und des Privatsektors in die Cloud zu verlagern.

Amazon AWS hat „eine Entscheidung getroffen, die die ukrainische Regierung und Wirtschaft gerettet hat“, sagt Mykhailo Fedorov, Minister für digitale Angelegenheiten. Konkret ging es um die Rettung wichtiger Regierungs-, Steuer-, Bank- und Eigentumsdaten, die anfällig für Zerstörung und Missbrauch waren und nicht in die Hände russischer Eindringlinge fallen durften – praktisch die gesamte «kritische Informationsinfrastruktur» der Ukraine. Amazon hat allein bis Ende 2022 75 Millionen US-Dollar in die Unterstützung der Ukraine investiert, darunter auch in die Datenwiederherstellung mithilfe der SSD-Boxen.

Matthew Prince, Vorstandschef des Sicherheitsspezialisten Cloudflare. Kalifornien: „Wir haben schon im Dezember 2021 Zeichen für einen bevorstehenden Angriff gesehen. Wir haben in der Ukraine genau das beobachtet, was auch in Georgien, Tschetschenien und auf der Krim passiert ist, bevor dort russische Offensiven begannen. Deshalb haben wir auch schon von Dezember an vor einer Attacke gewarnt und gleichzeitig der Ukraine mit unseren Diensten geholfen, den Internetbetrieb aufrechtzuerhalten, was wir auch bis heute tun.“

Viele internationale Unternehmen folgen. Der deutsche Drohnenhersteller Quantum Systems stellte der Ukraine 100 Trinity-Drohen zur Verfügung, das sind Kartierungsdrohnen, die für den Wiederaufbau der Ukraine eingesetzt werden und die für verschiedene Katastrophenhilfe-, Schadensbeurteilungs- und Vermessungsmissionen konfiguriert sind. Die neue Drohnenfabrik von Quantum Systems wurde im April 2024 in der Ukraine von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck eröffnet. Ein Investment von sechs Millionen Euro, das hundert Arbeitsplätze schaffen soll.

Das japanische Technologie-Konglomerat Rakuten eröffnete im Januar 2024 nach Odesa eine Niederlassung in Kyiv. Rakuten betreibt den in der Ukraine weit verbreiteten Messanger-Dienst Viber. Das Unternehmen will beim Wiederaufbau der Infrastruktur des Landes durch offene Funkzugangsnetze (Open RAN) und digitale Dienste helfen. Der türkische Drohnenhersteller Baykar hat fast 100 Millionen Dollar investiert, um bis 2025 ein Forschungs- und Produktionszentrum in der Ukraine zu errichten.

Soweit die internationalen, privaten IT-Unternehmen. Die Experten der Bundeswehr-Universität kriegen möglicherweise davon nicht so viel mit. „Ich würde diesen Krieg beschreiben als einen sehr konventionellen Krieg, zum Teil mit fast archaischen Elementen wie Artillerieduellen, der allerdings überwölbt und durchdrungen ist von einer zusätzlichen Ebene von Hochtechnologie“, sagt Frank Sauer von der Bundeswehr-Universität München. Dass die Ukraine seit eineinhalb Jahren dem russischen Angriff standhalten kann, verdanke sie nicht nur ihrem Kampfgeist und der stetigen Lieferung konventioneller Waffen, sondern auch dem Einsatz moderner Technologie auf dem Schlachtfeld.

In den USA sieht man die Situation deutlich prägnanter. Die Zusammenarbeit zwischen ausländischen Technologieunternehmen und den ukrainischen Streitkräften, die in jedem Bataillon einen IT-Experten haben, treibt eine neue Art von Experimenten mit militärischer KI voran. Das Ergebnis sei eine Beschleunigung „der wichtigsten grundlegenden Veränderung des Charakters des Krieges, die jemals in der Geschichte beobachtet wurde“, sagte General Mark Milley, ehemaliger Vorsitzender der Vereinigten Stabschefs, Reportern in Washington. Während des derzeitigen Einmarschs der Ukraine nach Russland wird auch die Zukunft der Kriegsführung getestet. Die Ergebnisse werden globale Auswirkungen haben.

Global ja, aber in Deutschland? Vielleicht noch als Ergänzung vom Oktober 2023, woran die Deutsche Polizeigewerkschaft verzweifelt: „Stecker raus, dunkel. Nancy Faeser, die deutsche Innenministerin, hat vor ein paar Tagen erklärt, dass die Software von Palantir Technologies bei den deutschen Bundesbehörden nicht zum Einsatz kommen wird und damit die Bildschirme der Ermittler praktisch ausgemacht.“

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